Toxischer Gegenpol: junge woke Nonbinäre

Jeder kennt sie: „alte weiße Männer“. Sie sind der Inbegriff für ein machtversessenen Menschentyp, der sexistisch und rassistisch auf seine Privilegien pocht. Statistisch kann man das wahrscheinlich auch darstellen, wenn man sich die CEOs westlicher Staaten anschaut. Aber wo ist der Unterschied zu einem rassistischem und/oder sexistischem Weltbild, wenn ich Menschen wegen ihres Geschlechts, Aussehens und Alter in diese Schublade stecke? Ich weiß nicht, was jemand dafür kann, die Gunst der frühen Geburt („alt“), die helle Pigmentierung der Haut („weiß“) und das Privileg des männlichen Geschlechts („Mann“) zu haben. Was ist daran besser oder schlechter, Menschen wegen ihres jugendlichen Alters, ihrer (möglichen) ausländischen Herkunft und ihres ebenso wenig gewählten (sondern biologischen) männlichen Geschlechts vorzuverurteilen? Das ist schlichtweg die diametral entgegengesetzte Vorverurteilung: gleiches Niveau und ebenso einfältig und unreflektiert.

Ich hatte nun das „Vergnügen“, den ebenfalls toxische Gegenpol zum „alten weißen Mann“ kennenzulernen: Es ist nicht die „junge schwarze Frau“, sondern der „junge woke Nonbinäre“. Ich werde dieses Jahr 50 Jahre „alt“, ich bin hellhäutig, und mein Geschlecht ist eindeutig als männlich feststellbar (nicht zuletzt wegen meines teilweise kabarettistisch-machohaften Verhaltens). Da habe ich wenig Möglichkeiten, mich als Opfer einer breiten Mitte, der sogenannten „Mehrheit“, darzustellen. Andere Gruppen haben es da leichter, und manche von diesen Gruppen suhlen sich förmlich darin! Natürlich sollten alle Menschen (und aus meiner Sicht auch Tiere!) ein würdevollen Umgang miteinander haben, und das bedeutet auch, dass man Rücksicht auf Minderheiten nehmen darf und sollte (wie man Rücksicht auf jedes Individuum nehmen sollte). Aber das bedeutet für mich auch, dass die „schweigende Mehrheit“ ein Mythos von Randgruppen ist, die ihre Weltsicht der Mehrheit aufzuzwingen versuchen. Demokratie bedeutet eben, dass die Mehrheitsmeinung sich durchsetzt und nicht die Minderheit (ob links, rechts, dazwischen oder außerhalb).

 

Die Geschichte

Zurück zum „jungen woken Non-binären“ und meiner kurzen, aber prägnanten Begegnung. Wir hatten eine Betriebsfortbildung „Ersthelfer*innen“ und saßen mit ca. 13 Leuten im Halbkreis in einem Seminarraum (eine bunte Truppe mit drei bi vier Männern und neun bis elf Frauen, unterschiedliche Nationalitäten, bis auf den Praktikanten¹ alle deutlich jenseits der 30). Vorne der uns nicht bekannte Dozent und etwas abseits ein (augenscheinlich) junger Mann, der Praktikant¹. Wie es bei einer solchen Schulung mit guter Betriebskultur üblich ist, wurde viel gelacht, und es wurden Späße gemacht. Mittags saßen wir in einem Restaurant, und auch da war die Stimmung ausgelassen und sehr kollegial – bis auf den schmallippigen Praktikanten. Am Ende des Tages verabschiedeten sich fast alle voneinander, Ausnahme hier (zumindest laut einer Kollegin, die den Praktikanten für einen Helfer des Kursleiters hielt) … ihr ahnt es schon.

Ich kenne und betreue die Einrichtung seit Jahrzehnten in Sachen IT und bin dort seit einigen Monaten halbtags angestellt. Alle Kolleg*innen kennen mich gut, wissen mit meiner offenen und teilweise schnippischen Art umzugehen, und es herrscht eine gute Stimmung im Team, auch wenn teilweise der Stress wegen zu vieler Klient*innen enorm sein kann. Die Einrichtung berät seit über 50 Jahren ausländische Arbeitnehmer im Stadtteil, organisiert Deutschkurse und besteht eben zum Großteil aus studierten Sozialpädagog*innen. Man könnte also davon ausgehen, dass es dort entsprechende Kompetenzen im Bereich von Rassismus und Sexismus gibt, denn der absolute Großteil der Belegschaft ist ja weiblich und sehr berufserfahren.

Etwas zwei Wochen nach unserer Fortbildung durfte ich dann zum Gespräch zu meiner Geschäftsführerin, da sich ein/eine Kolleg*in über „den alten weißen Mann“ beschwert hatte und nun die Geschäftsführung aufforderte, als Unternehmen entsprechend angemessen auf den Rassismus und Sexismus meiner Person zu reagieren. Verstanden? Es gab kein Gespräch mit mir oder sonst wem im Team, sondern der Gang war zur Geschäftsführung, und die Einrichtung sollte sich doch nun mal klar positionieren und mich entsprechend abmahnen oder Ähnliches. Ohne auf Details einzugehen: Keine der Kolleg*innen vom Ersthelfer*innenkurs hatten den Rassismus und Sexismus an dem Tag wahrgenommen und waren sehr überrascht, davon zu hören. Vor allem deshalb, weil laut Praktikanten mehrere von ihnen ja während der Fortbildung entsprechend verunglimpft worden waren! Witzigerweise war die einzige Kollegin mit Kopftuch eher schockiert, weil ebendieser Praktikant meinte, sie müsse doch für die Demonstration der stabilen Seitenlage das Kopftuch abnehmen. Nach ihrer Erinnerung der einzige Vorfall des Tages, den man in Sachen Rassismus hätte interpretieren können.

Nachdem sich also alle Kolle*innen zu dem Tag geäußert hatten und der Praktikant alleine mit seiner Interpretation dastand, verließ er die Einrichtung (wohl deshalb, weil er in einem solch „toxischen“ Umfeld nicht arbeiten wolle). Im Nachhinein sprachen mich mehrere Kolleg*innen drauf an und meinten, es täte ihnen leid, dass ich mir solche Vorwürfe hätte anhören müssen. Außerdem habe der Praktikant mehreren von ihnen angeboten, sie persönlich in Sachen Sensibilisierung für Rassismus und Sexismus zu schulen, da es ihnen offensichtlich an Sensibilität fehle! Wow, man kommt als studierende Person in einen Betrieb aus berufserfahrenen Sozialpädagog*innen, die ausschließlich im Bereich Rassismus arbeiten, und erklärt denen: „Ihr habt keine Ahnung, ihr bekommt nichts mit, ihr seid alle Opfer und nicht Unterstützer*innen und benötigt dringend eine Schulung von mir!“ Um es in meiner oben genannten schnippischen Art auszudrücken: ganz schön große Eier für eine nonbinäre Person.

Neben dem Funfact, dass ich aufgrund meiner äußerlichen unveränderlichen Merkmale auf oberflächlichste Art und Weise als „alter weißer Mann“ diskriminiert wurde, hatten einige Kolleginnen (alle weiblich) mir gegenüber auch gemeint, dass sie sich schon in Gegenwart des Praktikanten auf die Lippen bissen, um nicht versehentlich was „Falsches“ zu sagen. So schafft man ein toxisches Umfeld! Oder um es anders zu schreiben: Der Praktikant hat all das mit sich in die Einrichtung getragen, was er selbst um sich herum sieht! Gib jemanden einen Hammer, und er sieht überall Nägel. Und das Ganze, ohne eine Sekunde zu reflektieren, dass er/es selbst dieses Umfeld schafft.

 

Der (hinkende) Vergleich

Ich kann also feststellen, dass hier einmal mehr die Wahrnehmung der eigenen Umwelt auf den eigenen Vorurteilen basiert. (Ich erwähne an solchen Stellen immer gerne den Autofahrer, der im Radio die Durchsage „Geisterfahrer auf der A 7“ hört und darauf ausruft: „Einer? Hunderte!“) Wir haben bei diesem stereotypen Vorurteilsbild „junge woke Nonbinäre“ (denn mehr ist auch diese Verallgemeinerung nicht!) ebenso alles an Verhalten in petto, was die Person selbst abzulehnen meint:

Diskriminierend: Äußerliche Geburtsmerkmale wie „alt, weiß, männlich“ werden als Unterscheidungsmerkmal genutzt, um eine Gruppe von Menschen vorzuverurteilen. Es werden Verhaltensweisen und eine geistige Haltung unterstellt, weil sich eine Gruppe besonders einfach aufgrund ihrer äußerlichen Merkmale identifizieren lässt.

Nationalistisch: Das Argument der „kulturellen Aneignung“ ist doch nichts anderes als die Angst der rechten Demagogen vor der „Auslöschung ihrer Kultur“ durch „Austausch des Volkes“. Genau wie bei den (verängstigten) Rechtsextremisten wird ein Jahrtausende anhaltender Austausch zwischen den Kulturen auf die nationale Ebene reduziert. Man pickt sich den Teil der Geschichte und die zu dieser Zeit geltenden Landesgrenzen heraus, um diesen Zustand als den Urzustand zu definieren und (die eigenen) Ängste zu schüren.

Egozentrisch/Narzistisch: „Ich weiß, was Menschen als diskriminierend wahrnehmen (sollten), besser als die betroffenen Personen selbst. Meine Weltanschauung ist die einzig richtige, und ich spreche für die schweigende Mehrheit.“ Auch diese Perspektive kennen wir von anderen Minderheiten, wie z. B. den Rechtsextremen. Da wird dann auch gerne mal die Opferrolle ausgepackt und das eigene Leid in die Mitte der Aufmerksamkeit gepresst.

Toxisches Umfeld: Um Menschen leichter instrumentalisieren zu können und mögliche Kritik bereits im Keim zu ersticken, wird ein Umfeld erzeugt, in dem Angst und Verunsicherung herrschen. Das funktioniert im Management genauso gut, wie auch in diesem Fall. Denn wer will schon (vor versammelter Mannschaft oder Vorgesetzen) als Rassist*in oder Antisemit*in dastehen?

 

Mein Fazit

Das Leben in einer Gruppe bedeutet aus meiner Sicht eben zum Teil auch Anpassung an sein soziales Umfeld. Natürlich kann man beim Familienfest nicht mit zum Italiener gehen, weil man lieber griechisch isst, und dann sitzt man eben alleine im Restaurant, während die Familie zusammen beim Italiener zu Pasta und Rotwein lacht. Natürlich kann man mit seinem Lieblingsnationaltrikot oder in voller Dragqueen-Montur auf eine Beerdigung gehen und dem bürgerlichen Lager so seine (auf das Äußerliche reduzierte) Individualität unter die Nase reiben. Und selbstverständlich darf man auch bei einem Betriebsausflug mit langem Gesicht und ernster Mine abseits sitzen und sich ausgeschlossen fühlen, während alle anderen miteinander herumspaßen und sich auch einmal gegenseitig aufziehen. Aber ein besseres Sozialklima, ein ausgeprägteres Gemeinschaftsgefühl oder eine höhere Akzeptanz wird man wahrscheinlich damit nicht ernten (aber man kann sich herrlich in seiner selbst kreierten Isolation suhlen und sich als Solokämpfer*in für die politische Korrektheit sehen).

Vielleicht sollten wir vorsichtig sein, die Welt in schwarz und weiß, alt und jung, arm und reich oder männlich und weiblich einzuteilen. Auch wenn es mittlerweile leichter ist, sein (nicht biologisches) Geschlecht zu wechseln, sind doch „Hautfarbe“ und „Alter“ Dinge, die man selbst nicht gut bestimmen oder verändern kann! Vielleicht ist es normal oder sogar wichtig, dass es neben der breiten Mitte auch linke und rechte Flügel gibt, sofern es einen breiten Konsens in der Gesellschaft gibt. Das schließt auch ein, eine demokratisch getroffene Entscheidungen erst einmal anzunehmen und nicht mit physischer oder psychischer Gewalt zu bekämpfen. Und das meint auch: dass die radikalen Kräfte sich nicht mehr Raum einzuräumen versuchen sollten, als sie zahlenmäßig darstellen! Und ja, damit meine ich die sogenannten „Minderheiten“. Alle. Ausnahmslos. Denn heruntergebrochen ist jeder eine Minderheit für sich, und heraufgebrochen sind wir alle eine Gesellschaft. Alle. Ausnahmslos.

¹ „Praktikant“ war nach meiner Information eine gültige Ansprache, obgleich er/es sich selbst als „nonbinär“ deklariert.

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Dirk

Jahrgang 1974, in erster Linie Teil dieser Welt und bewusst nicht fragmentiert und kategorisiert in Hamburger, Deutscher, Mann oder gar Mensch. Als selbstständiger IT-Dienstleister (Rechen-Leistung) immer an dem Inhalt und der Struktur von Informationen interessiert und leidenschaftlich gerne Spiegel für sich selbst und andere (als Vater von drei Kindern kommt dies auch familiär häufig zum Einsatz). Seit vielen Jahren überzeugter Vegetarier und trotzdem der Meinung: „Alles hat zwei Seiten, auch die Wurst hat zwei!“

Ein Gedanke zu „Toxischer Gegenpol: junge woke Nonbinäre“

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